3.3 Gespenster- und Spukgeschichten

3.3 Gespenster- und Spukgeschichten

Lesen, entdecken und … selber schreiben

Das verwunschene Zimmer

3.3.1 Gespenst

Inge Kracht

Endlich wieder Skifahren. Am ersten Tag der Weihnachtsferien saß ich voller Vorfreude mit meinen Eltern im Auto auf der Fahrt von Düsseldorf ins Kleinwalsertal. Die Sonne schien und die Autobahn war frei. „In etwa vier Stunden sind wir da”, prophezeite mein Vater, als wir bei Frankfurt eine Rast einlegten. „Sollten wir hier nicht doch lieber noch Schneeketten kaufen? Man weiß ja nie”, fragte meine immer vorsichtige Mutter. „Nicht nötig. Das Wetter ist doch prima“, verwarf mein Vater ihre Bedenken. Leider blieb das nicht so.

Schon in Kempten hatte sich der Himmel zugezogen und es begann zu schneien. Schnell wurde es dunkel und schon bald hatte sich eine geschlossene Schneedecke auf die Fahrbahn gelegt. Auf der Bundesstraße, die wir nun laut Navi nehmen mussten, wurde alles noch viel schlimmer. Wir kamen nur noch langsam voran. Vor Oberstdorf, nur knapp 20 km von unserem Ziel entfernt, gerieten wir dann ich einen solchen Schneesturm, dass nichts mehr weiterging. „Ich kann meine Hand vor den Augen nicht mehr sehen und wir rutschen mehr, als wir fahren“, gestand mein Vater. „Lass uns hier irgendwo übernachten, bevor wir in einer Schneewehe steckenbleiben. Morgen hole ich Schneeketten. Damit schaffen wir dann die letzten Kilometer problemlos.“

3.3.2 Hotel

Als hätte er es vorausgeahnt, tauchte plötzlich etwas abseits der Bundesstraße ein großer schwarzer Klotz auf, dessen beleuchtetes Hotelschild durch die sturmverwirbelten Schneemassen gerade noch zu erkennen war. Es war nur ein kurzer Weg vom unheimlich leeren Parkplatz bis zum Eingang und trotzdem sahen wir schon aus wie die Schneemänner, als wir die Rezeption betraten.

Ein alter, mürrischer Mann übergab uns die Schlüssel für ein Doppelzimmer und ein daneben liegendes Einzelzimmer im 2. Stock. „Zimmer 204 für Sie und 205 für ihren Sohn“, grummelte er grantig in Richtung meiner Eltern. „Schließen Sie ihre Türen unbedingt ab und halten Sie sich fern vom Zimmer 207. Das Betreten ist strikt verboten“, befahl er. „Warum?“, fragte ich, sofort neugierig geworden. „Dort spukt es”, antwortete kurz angebunden der Alte.

Ruckelnd und schnaufend brachte uns der Aufzug in den zweiten Stock. Auf dem Weg durch den langen Gang zu unseren Zimmern entdeckten wir mit einigem Abscheu überall Zeichen eines langsamen Verfalls. Der fadenscheinige Teppich war in der Mitte beinahe ganz durchgelaufen. An den Wänden zeigten sich feuchte Flecken. Ein riesiges, bewohntes Spinnennetz in einer Ecken ließ mich erschauern. Die Bilder hingen schief und das Flurlicht flackerte bedrohlich. „Ich bin froh, wenn wir hier morgen weg sind“, flüsterte die Mutter. Eine Weile noch saßen wir im großen Zimmer beisammen und machten uns über den Portier lustig. „Spuken, so ein Quatsch!“ Schließlich wünschte ich den Eltern laut gähnend eine gute Nacht und schlurfte in mein Zimmer, wo ich mich angezogen im Schlafsack auf das Bett legte, weil mir vor der Bettwäsche grauste. Sofort schlief ich ein.

Plötzlich weckt mich ein schauriges Stöhnen und Wimmern. Im Zimmer ist es stockdunkel. Zitternd suche und finde ich den Schalter der Nachttischlampe. In ihrem schummrigen Licht erkenne ich: Hier ist niemand, ich bin allein. Da jagt mir ein neuerliches Stöhnen, gefolgt von einem schrillen Schrei, einen eiskalten Schauer über den Rücken. Langsam stehe ich auf. Mit weichen Knien tappe ich, so leise wie es geht, auf den Flur und lausche. Da ist es wieder, dieses Wimmern. Es kommt eindeutig aus Zimmer 207. Am liebsten wäre ich zurück in meinen Schlafsack gekrochen und hätte die Augen fest verschlossen, in der Hoffnung, dass es aufhört und es bald Morgen wird. Aber meine Neugier ist stärker.

3.3.3 Gebannt

Auf Zehenspitzen nähere ich mich der Tür, beuge mich vor und schaue durch das Schlüsselloch. Das Zimmer ist schwach erleuchtet und vollkommen unmöbliert, bis auf ein uraltes Kinderbett in der Mitte. Darauf liegt ein Mädchen mit langen blonden Locken, die ihr unglaublich blasses Gesicht umspielen. Sie trägt ein weißes altertümlichen Spitzenkleid. So schön, so fremd. Fasziniert von ihrem Anblick, klebe ich an der Zimmertür. Sie stöhnt und wimmert jetzt lese vor sich hin. Plötzlich höre ich sie flüstern: „Komm, komm schnell herein zu mir und hilf mir. Bleibe bei mir. Ich bin so allein.“ Gebannt von dem Zauber legt sich meine Hand ganz von selbst auf die Klinke. Doch bevor ich sie herunterdrücken kann, steht mein Vater neben mir und legt seinen Arm um meine Schulter. „Hey Tim, wach auf. Du hast geträumt. Komm schnell wieder ins Bett. Hörst du die Glocken? Es ist Mitternacht“. Er führt mich zurück zu meinem Bett und bleibt noch eine Weile bei mir sitzen, bis er denkt, ich sei eingeschlafen.

3.3.4 Rote Augen

Als er weg ist, kann ich nicht liegenbleiben. Wie ein Magnet zieht es mich zurück zu dem verwunschenen Zimmer. Wieder schaue ich durch das Schlüsselloch. Diesmal aber kann ich nichts erkennen, ich sehe nur Rot. Alles ist und bleibt still und die Tür ist fest verschlossen. „Der Vater hat das Schlüsselloch mit einem Tuch abgehängt“, denke ich und enttäuscht gehe ich zurück in mein Zimmer.

Am nächsten Morgen beim Auschecken bin ich dann ein paar Minuten mit dem Alten an der Rezeption allein, während die Eltern unser Auto startklar machen. „Was hat es eigentlich auf sich mit dem Zimmer 207“, frage ich schnell. „Eine schreckliche ,todtraurige Geschichte war das“, seufzt der alte Mann. „Dort ist vor vielen Jahren ein kleines Mädchen gestorben. Obwohl sie krank war, haben ihre Eltern sie allein zurückgelassen, um auf einen Ball zu gehen. Als sie zurückkamen war die Kleine tot. Sie muss schrecklich gelitten haben, so allein, ans Bett gefesselt und eingesperrt. Seitdem spukt sie in dem Zimmer, wimmert und lockt. Doch wer immer das Zimmer betritt, verschwindet auf Nimmerwiedersehen. „Wie sieht sie aus“, frage ich noch, um mir letzte Gewissheit zu verschaffen. „Oh sie ist schön mit ihren blonden Locken und ihrem zarten, blassen Gesicht. Nur ihre Augen brennen vor Zorn. Sie sind feuerrot.“

„Kommst du jetzt, Tim? Was trödelst du denn? Wir müssen los.“ Der Ruf der Mutter holte mich ins Hier und Jetzt zurück. Unser gemeinsamer Urlaub verlief ohne weitere Überraschungen. Aber dieses Rot werde ich nie mehr vergessen.