Tom Sawyers Abenteuer und Streiche
Der Fremde
Ausschnitt aus dem 2. Kapitel

Die Sommerabende waren lang. Noch war's nicht dunkel geworden. Toms Pfeifen verstummte plötzlich. Ein Fremder stand vor ihm, ein Junge, nur vielleicht einen Zoll größer als er selbst. Die Erscheinung eines Fremden irgendwelchen Alters oder Geschlechtes war ein Ereignis in dem armen, kleinen Städtchen St. Petersburg. Und dieser Junge war noch dazu sauber gekleidet, – sauber gekleidet an einem Wochentage! Das war einfach geradezu unfasslich, überwältigend! Seine Mütze war ein niedliches, zierliches Ding, seine dunkelblaue, dicht zugeknöpfte Tuchjacke nett und tadellos: auch die Hosen waren ohne Flecken. Schuhe hatte er an, Schuhe, und es war doch heute erst Freitag, noch zwei ganze Tage bis zum Sonntag! Um den Hals trug er ein seidenes Tuch geschlungen. Er hatte so etwas Zivilisiertes, so etwas Städtisches an sich, das Tom in die innerste Seele schnitt. Je mehr er dieses Wunder von Eleganz anstarrte, je mehr er die Nase rümpfte über den „erbärmlichen Schwindel“, wie er sich innerlich ausdrückte, desto schäbiger und ruppiger dünkte ihn seine eigene Ausstattung. Keiner der Jungen sprach. Wenn der eine sich bewegte, bewegte sich auch der andere, aber immer nur seitwärts im Kreise herum. So standen sie einander gegenüber, Angesicht zu Angesicht, Auge in Auge. Schließlich sagt Tom:
„Ich kann dich unterkriegen!“
„Probier's einmal!“
„N – ja, ich kann.“
„Nein, du kannst nicht.“
„Und doch!“
„Und doch nicht!“
„Ich kann's.“
„Du kannst's nicht.“
„Kann's.“
„Kannst's nicht.“
[…]
Im nächsten Moment wälzen sich die Jungen fest umschlungen im Staube, krallen einander wie Katzen, reißen und zerren sich an den Haaren und Kleidern, bläuen und zerkratzen sich die Gesichter und Nasen und bedecken sich mit Schmutz und Ruhm. Nach ein paar Minuten etwa nimmt der sich wälzende Klumpen Gestalt an und in dem Staub des Kampfes wird Tom sichtbar, der rittlings auf dem neuen Jungen sitzt und denselben mit den Fäusten bearbeitet.
„Schrei ›genug‹“, mahnte er.
Der Junge ringt nur stumm, sich zu befreien, er weint vor Zorn und Wut.
„Schrei ›genug‹“, mahnt Tom noch einmal und drischt lustig weiter.
Endlich stößt der Fremde ein halb ersticktes „genug“ hervor, Tom lässt ihn alsbald los und sagt: „Jetzt hast du's, das nächste Mal pass auf, mit wem du anbindst!“ Der fremde Junge rannte heulend davon, sich den Staub von den Kleidern klopfend.

Der Freund
Ausschnitt aus dem 6. Kapitel

Auf dem Wege zur Schule traf Tom den jugendlichen Paria des Ortes, Huckleberry Finn, den Sohn des bekanntesten Stadt-Trunkenboldes. Huckleberry war der Gegenstand des Abscheus und Hasses aller Mütter der Stadt, die ihn fürchteten wie die Pest, weil er faul und zuchtlos, roh und böse war, wie sie dachten, und weil – ihre eigenen Jungen ihn anstaunten und vergötterten, sich förmlich um seine verbotene Gesellschaft rissen und alles drum gegeben haben würden, wenn sie hätten sein dürfen, wie er. Tom, wie alle die anderen „ordentlichen, anständigen Jungen“, beneidete Huckleberry um seine verlockende Existenz, und es war ihm streng untersagt worden, je mit dem „schlechten Kerl“ zu spielen. Gerade darum tat er es denn auch gewissenhaft, wenn sich nur irgend Gelegenheit dazu fand – und tat es mit Wonne, Huckleberry steckte immer in alten, abgelegten Kleidern von Erwachsenen, deren Fetzen und Lumpen nur so um ihn herumhingen. Sein Hut war nur die Ruine einer vormaligen Kopfbedeckung, deren Rand zerfetzt auf die Schultern niederbaumelte. Sein Rock, wenn er überhaupt einen trug, hing ihm bis auf die Füße und zeigte die hinteren Knöpfe etwa in der Gegend der Kniekehlen. Nur ein Träger hielt seine Hose an Ort und Stelle, Hosen, deren geräumige Sitzpartie zu leer war und sich nur zuweilen im Winde blähte, während die ausgefransten Enden im Schmutz nachschleiften, wenn sie nicht zufällig aufgekrempelt waren. Huckleberry kam und ging, wie es ihm beliebte. Bei schönem Wetter schlief er auf Treppenstufen oder sonstwo, bei schlechtem in leeren Fässern, alten Kisten, oder wo er eben unterkriechen konnte, wählerisch war er keineswegs. Er brauchte nicht zur Schule, nicht zur Kirche, brauchte niemanden als Herrn anzuerkennen, brauchte keiner lebenden Seele zu gehorchen. Er konnte schwimmen und fischen gehen, wann und wo er wollte, konnte bleiben, solang' es ihm behagte. Niemand verbot ihm, sich mit anderen zu prügeln, und abends konnte er aufbleiben bis Mitternacht und länger, ihn zankte keiner. Er war der erste, der barfuß lief im Frühling und der letzte, der im Herbste wieder in das lästige Leder kroch. Zu waschen brauchte er sich nie, zu kämmen auch nicht, noch frische Wäsche anzuziehen, und fluchen konnte er wie ein Alter, wundervoll. Mit einem Wort, alles, alles, was das Leben schön und angenehm macht, besaß dieser beneidete Huckleberry im reichsten Maße. So dachte und fühlte jeder einzelne der armen, geplagten, „anständigen“ Jungen in St. Petersburg. Tom rief also natürlich diesen für ihn romantischsten aller Helden sofort an:
„Holla, Huckleberry!“
„Holla, du selber!“
„Was hast du da?“
„Tote Katze.“
„Zu was kann man denn tote Katzen brauchen, Huck?“
„Zu was? Ei, um Warzen zu vertreiben.“
„Wirklich? Wie machst du's?“
[…]
„Na, das ist einfach. Du nimmst die tote Katze und gehst auf den Kirchhof, so um Mitternacht herum, auf das Grab von irgendeinem schlechten Kerl. Schlag zwölf kommt dann der Teufel, vielleicht auch zwei oder drei, man sieht sie nur nicht und hören tut man nur so was wie Wind. Und wenn sie dann den Kerl mit sich fortnehmen, schmeißt man ihnen die Katze nach und ruft:
Will der Deubel sich versehn,
Muß die Katze noch drein gehn,
Warze fliegt auch hinterdrein,
Werd' alle drei los dann sein!
